Gesundheit im postfaktischen Zeitalter – von David Amrhein
Das Internet hat uns Zugang gebracht zu einer Fülle von Informationen wie keine anderes Medium zuvor in der Geschichte der Menschheit. Erstaunlicherweise hat es aber auch das postfaktische Zeitalter eingeläutet: Das Wort postfaktisch wurde zum Wort des Jahres 2016. Und was bedeutet es? Es beschreibt das Phänomen, dass faktische Information unter einem Berg von inkorrekter Information verschwindet; dass das den Empfängern der Information anscheinend zunehmend egal ist; und dass solche Information oft von jemandem in die Welt gesetzt wird, der davon zu profitieren hofft.
Doch obwohl postfaktisch nun das Wort des Jahres 2016 ist, ist es keineswegs ein neues Phänomen, speziell auf dem Gebiet der Gesundheit: Hier bezeichnet man es als "Disease Mongering" — die "Vermarktung" von Krankheiten (https://de.wikipedia.org/wiki/Disease_Mongering). Hat sich die Welt bei den Pharmafirmen mit dieser Unsitte angesteckt?
Reizdarm wurde lange als "nur in den Köpfen der Patienten vorhanden" betrachtet. Nachdem GlaxoSmithKline im Jahr 2001 mit dem ersten Medikament dagegen auf den Markt kam, verwandelte er sich in eine respektable Krankheit. Wie ist das passiert? Gemäss einem Bericht im renommierten British Medical Journal: "Ein geheimer Entwurf einer medizinischen PR-Firma, In Vivo Communication, der an die Öffentlichkeit durchsickerte, beschreibt ein dreijähriges 'medizinisches Schulungsprogramm', um die Wahrnehmung des Reizdarms hin zu einer 'glaubwürdigen, häufigen und konkreten Erkrankung' hin zu verändern." (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1122833/) Die PR-Kampagne kostete 50 Millionen — gut investiertes Geld, wenn ein Medikament sich nachher auch nur leidlich verkauft.
Obwoh heute der Reizdarm eher als Krankheit anerkannt ist, ist es nach wie vor fraglich, ob es sich dabei um ein eigenständige Erkrankung handelt oder nicht doch eher um ein Symptom, das ausserdem verschiedene Ursachen haben könnte. Andere Beispiele von fragwürdigen Erkrankungen, für die "Wahrnehmung" mittels PR geschaffen werden sollte, sind z.B. "sexuelle Appetenzstörung", (Libido-Störung) ebenfalls ein Symptom, das viele körperliche und geistige Ursachen haben kann, oder solche Dinge wie das "Restless Legs Syndrom" (Syndrom der ruhelosen Beine).
Das Hauptanwendungsgebiet des Disease Mongering ist jedoch "eine Krankheit so zu definieren, dass möglichst viele Menschen daran leiden". Zustände wie ADD/ADHD (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) haben sich wie ein Buschfeuer verbreitet, und es gibt Schulen, an denen mehr als die Hälfte der Schüler an dieser Krankheit leidet. Wie sich diese Krankheit so epidemisch ausbreiten konnte, bleibt unerklärt, aber es gibt einige, die das darauf zurückführen, dass jemand wirklich unbedingt ganz viel Ritalin verkaufen wollte.
Die als gesund angesehenen Blutwerte für Cholesterin oder Blutdruckwerte wurden über die Jahre stetig gesenkt, so dass ein immer grösserer Prozentsatz der Bevölkerung unter diese Diagnose fällt. Rein zufällig sind Cholesterinsenker die meistverkaufte Medikamentenklasse, und Blutdrucksenker sind auf Platz 4 (https://www.thebalance.com/the-most-prescribed-medications-by-drug-class-2663215).
Andere Arten des Disease Mongering sind das Bewerben von häufigen Symptomen als schwerwiegende, eigenständige Erkrankungen, oder der Missbrauch von Statistiken, um die Wirksamkeit der Therapeutika zu übertreiben. So hat man z.B. nach der jahrzehntelangen weitverbreiteten Verwendung von Beta-Blockern zur Vorbeugung von Herzinfarkten festgestellt, dass diese die Überlebensdauer insgesamt gar nicht erhöhen. Ein kompletter Reinfall, aber milliardenfach verkauft.
Natürlich gibt es auch in der ganzheitlichen Medizin Disease Mongering, aber nur schon deshalb weniger, weil der finanzielle Anreiz kleiner ist. Jedenfalls ist Dr. Hulda Clarks Rat sicher ein guter: Wir alle sollten in der Lage sein, uns um unsere eigene Gesundheit zu kümmern. Nichts kann es uns ersparen, uns selbst schlau zu machen zu Gesundheitsthemen und selbst kompetent zu sein — sonst werden wir nur zu guten Opfern. Wissenskompetenz als Widerstand gegen das postfaktische Zeitalter!
David Amrhein – www.drclark.com
30.11.2016